Da sitzt also Terry Fox an einem kleinen Tisch, minimal beleuchtet in der Dunkelheit des Auditoriums der Hochschule für Künste in Bremen. Er sitzt da gebeugt über eine Klangschale, dessen Rand er behutsam und ganz zugeneigt so anbläst, dass ein leiser Pfeifton vernommen werden kann, der eben nur durch die bekannten Eigenschaften einer Klangschale akustisch so verstärkt wird, dass er gerade noch im Bereich akustischer Wahrnehmung zusammen mit dem Blasen, Luftholen und Atmen beim Hörer ankommt. Er sitzt da und macht nur dies, den Rand bespielen als Akt einer unmittelbaren, höchsten Konzentration, die darauf ausgerichtet ist, den einen möglichen Ton zu finden: eine Arbeit an der momenthaften, unselbstverständlichen und ernsten Artikulation, so also ob immer wieder ein neues Sprechen beginnt, ein vorsichtiges, tastendes Sprechen, das abhängig ist von einem nicht dafür geschaffenen Instrument und punktgenau mit der Materialität dessen zunächst unakustischen Randes in Einklang zu bringen ist. Denn zu viel geblasen, ist nur geblasen, und zu wenig, bringt nichts. Es gilt also immer wieder mit der Formung des Mundes und Intensität des Blasens exakt die minimale Distanz zwischen Lippen und Rand zu treffen, um das Zarte zu erzeugen, den kaum wahrnehmbaren Klang.
Da sitzt also Terry Fox am 9. November 2005 als ein von Krankheiten gezeichneter Mann, der nicht aufhört, dieses eine schwache Pfeifen zu finden und einen Ton erzeugt, der keinen Regeln der Komposition gehorcht, sondern dessen anrührende kurzfristige Anwesenheit sein einziger Zweck ist, nicht mehr und nicht weniger. Es gibt kein Crescendo, keine Variationen oder sonstige musikalische Erfindungen, um die Sache vielleicht interessanter zu machen. Nein, es gibt nur diesen leichten Pfeifton in schönster Regelmäßigkeit, immer und immer wieder, pausenlos, stetig. Doch beim längeren Hören wird Differenz erzeugt. Jedes Pfeifen wird ein anderes Pfeifen, mal fast sauber, dann brüchig, mal schwächer, dann triumphierend, mal mit Nebengeräuschen, dann schon fast rein. Diese unscheinbaren, minimalen Differenzen von Ton zu Ton lassen den körperlichen Aspekt dieser Übung greifbar werden, das hörbare Atmen und Anblasen, das sensible Suchen und tastende Finden im Unterschied etwa zu einem konzertanten Flötensolo, bei dem genau diese Aspekte durch instrumentale Könnerschaft ja vermieden werden sollten. Es geht also in keinster Weise bei dieser Aufführung um den perfekten Ton, sondern um den Akt tonaler Erzeugung, auch um eine Ursprungstätigkeit, für die unser Bewusstsein wieder geschärft werden muss, weil wir bei all unseren Musikerfahrungen vergessen haben, was ein Ton, ein Klang eigentlich bedeutet, und was es heißt, ihn zu realisieren.
Für uns als Publikum bewirkte die körperlich prägnante Aufführung von Terry Fox und seine Konzentration eine fast atemlose Stille. Konzentration antwortete auf Konzentration: eine ideale Situation für eine perfekte Aufführung, nur unterbrochen durch Geräusche außerhalb des Auditoriums, leichtes Hüsteln und Rascheln von Kleidern, dramatisiert durch jene Hörer, die das Ganze nicht aushielten und frühzeitig leise den Raum verließen. Geplant war eine Stunde dieser Performance, doch fiel Terry Fox in seiner Konzentrationsübung augenscheinlich in eine gewisse Trance – die sich immer dann einzustellen vermag, wenn wir eine Sache mit äußerster Konsequenz in den Wiederholungsraum schicken -, aus der er behutsam nach eineinhalb Stunden von seiner Frau Marita Loosen geweckt wurde. Für mich und andere war diese Aufführung eines jener Lebenserlebnisse, deren Intensität unvergesslich bleibt, aber auch, weil sie hier jene unfassbare Kraft diskreter Handlungen und Werke, über die ich an anderer Stelle nachgedacht hatte, exemplarisch werden ließ. Denn nur das Diskrete vermag uns noch zur Aufmerksamkeit fähig zu machen, zu rühren und zu faszinieren.
Ich erzähle hier aber auch deshalb so ausführlich davon, weil ich meine, dass diese Aufführung, zu der ich Terry Fox, der damals Stipendiat hier im schönen Barkenhoff war, nach Bremen eingeladen hatte, nochmals in nuce zeigt, worum es dem 2008 in Köln verstorbenen Künstler der Dokumenta-Ausstellungen 5, 6 und 8 recht eigentlich ging, nämlich um einfache, klare Handlungen, die präzise ausgeführt, äußerste Konzentration und zugleich den körperlich extremen Einsatz eines Rituals erforderten. Das wird besonders deutlich mit seinen Performances, aber auch in dem stillen Meisterwerk „Children’s Tape“ (1974). In seinem Umgang mit Klang als schlichte Begegnung von Körper, Instrumentarium, bzw. Skulptur und Dauer, sind es die archaischen Töne etwa von Tropfen, Klaviersaiten und Katzenschnurren, die ihn bewegen. Einige dieser Arbeiten hat Terry Fox dann in Bremen auch vor seiner Aufführung in einem Seminar erläutert, und hier wurde nochmals deutlich, wie konkret, humorvoll, intellektuell und genau dieser künstlerische Einzelgänger der Nachkriegskunst denkt und handelt.
Nun erfordert künstlerische Diskretion, wie wir gesehen haben, eine besondere Aufmerksamkeit des Publikums, was auch für die hier im Barkenhoff ausgestellten Spracharbeiten des Künstlers gilt. Die Text-Bild-Raum-Konstellationen des Terry Fox ermangeln jeglicher Plakativität. Sie sind nicht leicht zu lesen oder zu entschlüsseln, sondern inkludieren eine Rätselhaftigkeit, die sich nicht immer auf den ersten Blick erschließen muss, sondern jene geistige Arbeit erfordert, wie wir sie von der Poesie kennen. Es sind Buchstaben- und Textkonstellationen, in die wir einsteigen sollen, um dem Unbekannten einen Sinn abzutrotzen, und die in der Denkbewegung der Annäherung andere Räume des Sagens eröffnen. So sind die Arbeiten trotz intendierter Lesbarkeit zunächst sprachlos, weil die Buchstabenfolge sich zerdehnt, ihre Richtungen wechselt oder mit realen Gegenständen wie ein dreidimensionaler Rebus kombiniert wird, während andere Objekte ohne Buchstabenzufügung direkt aus der Region des Sprachspiels abgeleitet sind.
Solche poetischen Verfahren finden wir im exemplifiziert und auf den höchsten Stand gebracht in dem nicht nur für den Sprachspieler Marcel Duchamp äußerst wichtigen Roman „Locus Solus“, den der ebenfalls einzelgängerische Schriftsteller Raymond Roussel 1914 veröffentlichte und der dieser Ausstellung den Titel gab. Locus Solus ist wie der Barkenhoff der einsame Ort jenseits der großen Stadt. In dieser Enklave, fern vom Getriebe, entstehen die Erfindungen des Romanhelden als fantastische, rätselhafte Gebilde, sprachlich legitimiert und ausgestellt in einem Park. Triebfeder dieser konkreten, instrumentalen Künstlichkeit ist die Assoziations- und Gleichklangfähigkeit des Wortmaterials, also eine objektive Entäußerung sprachimmanenter, fließender Bewegungen, von der Terry Fox magisch angezogen war. Es geht bei Roussel und Fox also nicht um die Offenlegung des Denkbaren, sondern um die Öffnung des Denkbaren durch Rätselhaftigkeit in alle Richtung; denn das Rätsel ist es, das uns die Freude des Denkens, und das Poetische, das uns die Schönheit des Unbekannten lehrt. Und so sagt es Terry Fox in seiner Arbeit „Statement“ 1982: „Ein kopfloser Mann musste einen Brief schreiben/ er wurde gelesen von einem, der sein Augenlicht verloren hatte/ der stumme wiederholte ihn Wort für Wort/ und der, welcher lauschte und hörte, war taub.“ Ein weiteres Rätsel also, das in Paradoxen spricht, die aber nicht im Scheitern enden, sondern in einem „Trotzdem“ durch jene Energien, die Terry Fox transformierte, um uns in unserer blassen Existenz zu ermuntern, die abgerissenen Fäden der ungeahnten Möglichkeiten des Denkens, Fühlens und der Aufmerksamkeit auf das Unscheinbare wieder zu verknüpfen. In diesem Sinne wünsche ich der Ausstellung kluge und diskrete Besucher.