Ron Meyers, Einen Tag im Leben – 7 Erinnerungen an Terry Fox & Worpswede

Los Angeles, November 2014

1) Als ich in Terrys Atelier ankomme, merke ich, dass er viel gearbeitet hat. Es stehen drei tolle, ganz neue Skulpturen auf dem Heizkörper unter den Fenstern: drei große rechteckige Torfstücke, die mit hellgrünem samtigen Moos überzogen sind. Auf zweien sitzen kleine Objekte: auf dem einen eine gestreifte, aufgerollte Schlangenhaut, auf dem anderen ein Zweig mit Blatt und zwei Beeren, das an eine stehende Figur erinnert. »Wow, Terry« sage ich, »die sind wunderschön!« Er antwortet, »Nein, das ist keine Kunst, nur etwas Persönliches. Mir schwebt etwas anderes vor.«

2) Worpswede ist wie ein Traumland, mit dichten Birkenwäldern, weiten, smaragdgrünen Mooren, nassen Torfsümpfen, sanften Hügeln und Kanälen. Und die Architektur ist wie aus Grimms Märchen (z.B. die Käseglocke!). Aber sobald man das Atelier von Terry Fox betritt, steht man in einem Raum, der von niemandem außer ihm selbst hätte gestaltet sein können. Seine persönliche Handschrift erkennt man überall. Mitten im Raum, auf einem großen weißen Zeichentisch, sind Dutzende DIN A4-Blätter in drei Reihen, jeweils zu acht Stück, gestapelt, jedes Blatt genau auf dem anderen ausgerichtet, alle schwarz überzogen mit maschinen geschriebenen Zitaten zum Thema »Schatten«. Die Zitate wurden von Terry über die Jahre aus Gedichten, Romanen, wissenschaftlicher Literatur und dem Internet gesammelt, und in meinen Augen scheinen die eng, ohne Zwischenräume geschriebenen Texte wie eine einzige, große, schöne Zeichnung. An den Wänden hängen Tuschzeichnungen, Bleistiftzeichnungen, ein dürrer Zweig und eine Reihe anderer, im Moor aufgelesener Dinge. Auf dem Boden und an den Wänden stehen weitere Tische mit unzähligen Rollen verschiedenartigen Papiers, daneben mit Büchern vollgestopfte Regale und Schränke voller Farben, Werkzeug und Reißschienen. Der Gesamteindruck ist jedoch nicht der eines verrückten Sammelsuriums, sondern eines schönen und harmonisch zusammenhängenden Ganzen. Alles, was Terry berührt, wird auf diese Weise verwandelt.

3) (Die Wecker-Routine). »Ron, steh‘ auf, es ist acht Uhr!« Terrys Stimme reißt mich aus einem unruhigen, vom Jetlag geplagten Halbschlaf, und als ich die Augen aufmache, steht er neben meinem Bett wie ein riesiger leibhaftiger Wecker. Dann nochmal: »Ro-o-n, es ist schon acht Uhr! Raus aus den Federn!« Er bewegt sich keinen Deut, bis ich mich geschlagen gebe und aufstehe. Auch wenn ich diese Routine anfangs irritierend finde, wiederholt es sich JEDEN Morgen um acht Uhr. Die Prozedur ist so übertrieben, dass sie etwas Urkomisches bekommt. Humor ist wohl ein Markstein in Terrys Leben und unsere Tage zusammen sind angefüllt von Witzen, Wortspielen, und einem sanften, sanften Sarkasmus, wie er nur zwischen Freunden entstehen kann.

4) (Das Ritual). Die tägliche Übung, um sich für die Arbeit in Schwung zu bringen: Um Punkt acht aufstehen. Zum Frühstück Müsli mit Joghurt und Kaffee. »Astral Weeks« von Van Morrison, oder Bob Dylans »Time Out of Mind«, oder »Ragas« von Ustad Ali Akbar Khan aus dem Recorder. Bücher lesen, Notizen machen. Mit diversen Materialien experimentieren, Witze reißen, dann noch mehr Witze reißen. Und am wichtigsten, ob bei Regen oder Sonne, das Pilgern ins Café Central im Herzen des Dorfes. »Zwei Latte macchiato, danke!« Terry hat schon immer Cafés als Werkzeug, als Verlängerungen seines Ateliers aufgefasst. Wenn es ihm dort zu eng wird, dann ist es höchste Zeit für einen langen Spaziergang zum Café. Ein guter Ort, um sich in der Öffentlichkeit zu verlieren, um zu beobachten und aufzunehmen. Um auf andere Gedanken zu kommen. Um Pläne zu überdenken und neue Ideen zu entwickeln. Um aufzutanken. Das Café Central als Nabelschnur zwischen Studio und Außenwelt.

5) (Eintagsfliegen).
a) Wenn man mit Terry spazieren geht, sollte man immer bereit sein, die Bremsen anzuziehen. Er bewegt sich in einem Tempo wie beim »Window-Shopping«. Er schaut sich wirklich ALLES, was am Wege steht, genau an. Manchmal dreht er sich um und geht dieselben Schritte noch einmal zurück. Start und Stop, Stop und Start, Start und Stop.
b) Man sieht Terry nie, wie er die Hände in die Taschen steckt oder hinter seinem Rücken verschränkt. »Das ist eine Geste der Unterwerfung, die Hände zu verstecken,« sagt er.
c) Der Klang seiner immer freundlichen, sanften Stimme am Telefon: »Hi Ron, hier ist Terry.«
d) Zwei seiner Lieblingswörter: Freund und Kumpel.
e) Er kennt meine Angst vor Spinnen, hat aber keine Lust, das riesige, graue, schwangere Exemplar in der Ecke der Wand über meinem Kissen im Schlafzimmer zu killen. Stattdessen findet er eine elegante Lösung: Er versteckt die Spinne hinter einem gebogenen Blatt Papier, das er in der Zimmerecke mit Klebeband befestigt.
6) (Der Spaziergang). Den Grund weiß ich nicht mehr, aber plötzlich überkommt uns das Bedürfnis nach einem langen Spaziergang. Wegen der Bewegung? Der frischen Luft? Aus Unruhe?
Am Ortsrand gibt es einen Fußweg, ein schmales sandiges Band, das sich über den großen Hügel, den Weyerberg, schlängelt. Wir machen ein paar Schritte, dann noch ein paar und so sind wir unterwegs.
Inzwischen gehen wir seit mehr als einer Stunde bergauf. Wie klein der Ort schon erscheint! Die Sonne ist warm, vielleicht etwas zu warm. Wir haben zwar kein Wasser dabei, aber freuen wir uns nicht ungemein, hier zu sein?
»Wie weit gehen wir noch? Wo sind wir überhaupt?«, frage ich. »Keine Ahnung«, sagt Terry. »Ich bin diesen Weg noch nie gegangen.«

7) (Shadow Drawings/Schattenzeichnungen: »Für Worpswede«). Nach Monaten des Sammelns von Studien zum Thema »Schatten«, sowie Monaten des Experimentierens mit diversen Materialien, erreicht Terry eine elegante Lösung: Er wird die Konturen der Schatten nachzeichnen (verfolgen, kartieren, einfangen), die von zwei sonnenbeschienenen Objekten (einem dreiarmigen Kerzenständer und einer hohen Sanduhr) geworfen werden, sieben Zeichnungen insgesamt.

Er wird die Grenze, die Schwelle, zwischen dem nicht Vorhandenen (dem Sonnenlicht) und dem Vorhandenen (dem Fehlen von Licht, dem Schatten) nachzeichnen.

Dieses Werk birgt ein tiefes Geheimnis: Ist die Dunkelheit eine Art Stoff, oder ist sie das Fehlen des Stoffes? Oder kann etwas, das man sehen kann (gleichzeitig) etwas sein, das in Wirklichkeit nicht da ist?

Weil die Sonne sich durch das Weltall bewegt, die Erde um die Sonne kreist und sich gleichzeitig um die eigene Achse dreht, ist ein durch Sonnenlicht hervorgerufener Schatten wie eine langsam sich bewegende Zielscheibe, die nie sehr lange still steht. Das genaue Nachzeichnen von diesem sich bewegenden Schatten ist körperlich anstrengend, und erfordert höchste Konzentration.

Terrys Konzentration zeigt sich in den Strichen, die er gezeichnet hat. Wenn man diese vergrößern würde, glichen sie den Spuren eines Seismografen während eines milden Erdbebens , mit unzähligen Tiefen und Spitzen, Tälern und Höhen.

In der Vergrößerung zeigen Terrys »Shadow Drawings« das Zittern der Nerven, die Atemzüge und den Puls des Künstlers.

(Für: INPUT/OUTPUT – Schnittpunkt Worpswede, Worpsweder Museumsverband e.V., 2014.)